Testimonial Verena Marty, GMS-Ehrenmitglied

Wo anfangen mit Highlights aus über 70 GMS-Reisen? Auch ein sehr vollständiger Geschichtsunterricht in der Mittelschule hat mir nicht das vermitteln können, was dank der GMS ein Besuch an Ort und Stelle der Ereignisse bietet. Dazu kommt, dass GMS-Reisen immer auch Lektionen in Geographie sind. Nachstehend ein paar „Müsterli“ von Erlebnissen, die mir (ausserhalb von Reiseberichten) im Gedächtnis hängen blieben.

Auf meiner allerersten GMS-Reise 1993 – RL H.R. Herdener, zugleich GMS-Präsident – nach Danzig („Ab 4 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen“), Warschau und auf die Wolfsschanze wurde mir erstmals bewusst, dass Landesgrenzen nicht unverrückbar sind – für mich als Schweizerin damals eine eher neue Einsicht. Polen, das von 1795-1918 als Staat von der Landkarte verschwunden, 1919 wieder gegründet und nach dem Zweiten Weltkrieg nach Westen verschoben wurde, zeigte mir im Gelände anschaulich, wo die alten Grenzen und einstigen Wege der zivilen und militärischen Grenzpatrouillen verliefen.

Der Höhepunkt aller meiner Reisen war die 11-tägige Russland-Reise von 1995 – RL H.R. Herdener – , die in St. Petersburg (bis 1991 Leningrad) begann und ab Moskau im Sonderzug nach Stalingrad (seit 1962 Wolgograd), via Rostow am Don entlang dem Asowschen Meer nach Kiew und via Kursk wieder nach Moskau führte. Wir waren 63 Teilnehmer (inkl. 9 Frauen) plus 2 Zeitzeugen, der Deutsche Horst Zank und der Russe Prof. Mihail Semiriaga, dazu eine ebenso grosse Zahl von Zugspersonal (Lok-Führer, Sicherheitsleute, Köche, Servierpersonal, Zimmermädchen usw.). Der Tagesablauf war militärisch geregelt: im Konferenzwagen wurden „Lectures“ abgehalten, an denen der RL und die Zeitzeugen die nötigen Informationen zum Kriegsverlauf vermittelten. Eine Episode hatte besondere Bedeutung. Wir besichtigten in Dmitrievka, etwas ausserhalb von Stalingrad, ein kleines Plateau, wo sich im Dez. 1942/Jan. 1943, also kurz vor der Kapitulation der 6. Armee, spärliche deutsche und grössere russische Truppen gegenüberlagen. Der junge russische Politoffizier forderte via Megaphon die Deutschen zur Kapitulation auf, der deutsche 23-jährige Regiments-Kommandant (seine Vorgesetzten waren alle tot) weigerte sich. Wir standen in feuchten ungeteerten Strassen in der Nähe von ein paar armseligen Bauernhäuschen, wo sich die Soldaten beider Armeen gelegentlich hatten waschen können, und lauschten den Schilderungen der beiden Zeitzeugen. Da erkannten die beiden, dass sie es waren, die sich vor 52 Jahren gegenüber gelegen hatten. Ein sehr bewegender Moment! Auf dem Rückweg zum Bus den frisch gepflügten Feldern entlang lagen immer wieder menschliche Knochen, Gürtelschnallen, Schuhsohlen, Teile von Lederzeug und ähnliches. Eindrücklich war die Begegnung mit dem Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge, der die Knochenfunde zu identifizieren versuchte und Deutsche wie Russen beerdigte.

Am Monte Cassino – RL H.R Fuhrer, 1999 – um den 1944 heftige Kämpfe tobten, hat mich die steile Bergstrasse erschreckt – was, wenn der Bus nicht auf der schmalen Fahrstrasse geblieben wäre? Wir wären die ganze glatte baumlose Bergflanke hinabgestürzt, wo am Fuss ein grosser italienischer Soldatenfriedhof lag, in dem gerade ein Veteranentreffen stattfand. In fast idyllischer Erinnerung ist mir dagegen der Polnische Soldatenfriedhof geblieben, in friedlicher Nähe neben dem wieder aufgebauten, strahlend weissen Kloster Monte Cassino.

Wo immer möglich, wurde das Zeitgeschehen ins Programm eingebaut. So statteten wir auf der Dresden-Reise 1996 – RL H.R. Herdener – der in der Frühphase des Wiederaufbaus befindlichen Frauenkirche in deren Krypta einen Besuch ab. Leicht konnte man sich dabei verspäten, was einem, wenn man sich nicht pünktlich, d.h. 2 Minuten vor dem vereinbarten Termin, am Bus wieder einfand, einen strafenden Blick oder gar eine Rüge des RL eintrug.

Auf der Sizilien-Reise 2000 – RL H.R. Fuhrer – , wo die Landung der Alliierten 1943 das Thema war, wir uns aber auch der antiken Geschichte der Insel und deren Tyrannen in vorchristlicher Zeit widmeten, haben wir in den ehemaligen Steinbrüchen, wo Gefangene und Sklaven geschunden wurden, unter der Leitung des stimmgewaltigen H.R. Fuhrer den Kanon „Dona nobis pacem“ gesungen im Gedenken an die antiken Opfer und diejenigen des Zweiten Weltkriegs. Unser ad-hoc Chor hat in diesen Höhlen grandios geklungen.

Als köstliche Episode in Erinnerung geblieben ist die Reise von 2005 auf den Obersalzberg unter der Leitung von Kurt Lipp. Kurz vor der Ankunft in Berchtesgaden stellte sich heraus, dass das gebuchte Hotel uns nicht aufnehmen konnte – wohin mit 34 Teilnehmern? Kurz entschlossen brachte uns der RL ins neu eröffnete Fünfsternehotel InterContinental auf dem Obersalzberg (auf dem Gelände der abgerissenen Villen der Nazi-Bonzen), im Vertrauen darauf, dass die GMS-Versicherung die Mehrkosten übernehmen würde – was dann nicht der Fall gewesen sein soll. Wir verbrachten herrliche 2 Nächte mit Frühstück in der fast leeren Luxus-Herberge. Überhaupt Kurt Lipp: Wenn er Schlachten schilderte, z.B. auf der Mussolini-Reise 2004 oder am Isonzo 2007, schossen seine blaue Augen Blitze und ich glaubte den Geschützdonner zu hören.

Die Beresina 1815/Barbarossa-Reise 1941-1945 von 2013 – RL H.R. Fuhrer – verknüpfte die Ereignisse von 1815 mit denen von 1941. Auffällig die Parallele: Napoleons Truppen waren auf den gleichen Achsen unterwegs wie gut 130 Jahre später die Wehrmacht – so wiederholt sich die Geschichte. Unvergesslich in Erinnerung bleibt mir, wie wir bei Sonnenuntergang in friedlicher Abendstimmung beim Beresina-Denkmal über dem gemächlich dahin fliessenden Wasser das Beresina-Lied sangen, angeführt wiederum von H.R. Fuhrers kräftiger Stimme, im Gedenken an die Schweizer und andern Opfer im Tross von 1815.

Unvergesslich sind mir auch die zahlreichen und meist ausgedehnten Soldatenfriedhöfe in Westeuropa, v.a. Frankreich, Italien, Belgien – etwas, das wir in der Schweiz nicht kennen. Die gepflegtesten sind zweifellos die amerikanischen, ihre genaue geometrische Ausrichtung und der ständige Perspektivenwechsel hat mich unglaublich fasziniert – und traurig gestimmt angesichts des jugendlichen Alters sehr vieler Gefallener.

Nicht nur der Zweite Weltkrieg stand im Zentrum meiner GMS-Reisen. Mich hat vor allem die Person von Preussenkönig Friedrich dem Grossen fasziniert. Auf mehreren Reisen 2001-2003 – RL Oberst Fritz Hoppe, Berlin – wurde der Siebenjährige Krieg (1756-1763) anhand der wichtigsten Schlachten Friedrichs studiert. In Kunersdorf (heute in Polen) wurde mir ein weiteres Mal klar: die Kriegspartei, die oben sitzt, ist im Vorteil – Morgarten 1315 lässt grüssen. Übrigens war damals Polen noch nicht in der EU (Eintritt 1.5.2004): die Grenzbehörden liessen unseren Bus an der polnisch-deutschen Grenze 1½ Stunden warten, trotz vorgängiger Bemühungen des RL und seines bei den deutschen Grenztruppen als Offizier eingeteilten Sohnes.

Aber was wären alle Reisen ohne die Freunde, die zahllosen Gespräche mit ihnen und die Kontakte ausserhalb der Reisen? Meine frühesten Reisegenossen Paul Gmür, Oswald Aeppli, Heini Weber, Paul Rutschmann, Ernst Walder, Walter Stöckli sind alle nicht mehr, gehörten sie doch teilweise der Aktivdienstgeneration an oder erlebten den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs als Jugendliche. Das gilt auch für die RL H.R. Herdener, Karl Schori, Josef Weiss, Alfred Gilgen und andere, unter ihnen der leider Anfang 2023 verstorbene H.R. Fuhrer. Ihnen allen und der GMS verdanke ich unvergessliche Erlebnisse mit Menschen, Landschaften und europäischer Geschichte.

 

© Verena Marty, GMS-Ehrenmitglied, 10.4.2024