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Der Ukraine-Krieg im geostrategischen Kontext

Referenten:

Dr. Dieter Kläy, Tagungsleiter, Vorstandsmitglied der GMS

Dr. Marcel Berni, wissenschaftlicher Assistent Dozentur Strategische Studien, Höhere Kaderausbildung der Armee HKA; Militärakademie an der ETH Zürich (MILAK).

Oberst a D Bruno Russi, ehemaliger Verteidigungsattaché der Schweiz in Russland, Belarus, Armenien und Kasachstan.

Der Tagungsbericht von Dieter Kläy

Der Krieg in der Ukraine ist in einem erweiterten geostrategischen Kontext zu verstehen. Marcel Berni, wissenschaftlicher Assistent an der Dozentur Strategische Studien der Militärakademie an der ETH Zürich, und Bruno Russi, ehemaliger Verteidigungsattaché der Schweiz in Russland, Belarus, Armenien und Kasachstan, beleuchteten den Konflikt. 150 Personen nahmen an der GMS-Herbsttagung 2023 teil.

In seiner geostrategischen Lagebeurteilung identifizierte Marcel Berni Anzeichen für ein neues Blockdenken mit Analogien zum Kalten Krieg. Ein neuer Machtblock zeichnet sich zwischen den USA mit Juniorpartner Europa und China mit Juniorpartner Russland ab. Der Ukrainekrieg darf nicht isoliert gesehen werden, sondern muss in einem geopolitischen Kontext beurteilt werden. Nach dem Wahlchaos um Trump und Biden in den USA, nach dem demütigenden Abzug der USA aus Afghanistan und nach der Pandemie, die vor allem China in Mitleidenschaft gezogen hat, sah der russische Präsident Wladimir Putin die Chance gekommen, die Ukraine anzugreifen.

Krieg wird zum Mittel der russischen Aussenpolitik
Der 24. Februar 2022, Tag des Angriffs Russlands auf die Ukraine, war für die Europäer ein böses Erwachen. Der Appeasement-Politik des Westens wurde ein jähes Ende gesetzt. Krieg ist nach Tschetschenien 1999, dem Kaukasuskrieg 2008, der Annexion der Krim 2014 und der Intervention in Syrien 2015 einmal mehr zum legitimen Mittel der russischen Aussenpolitik geworden. Putin ist nicht in die Diktatorenfalle getappt. Zwar hat er die eigenen Streitkräfte überschätzt und den Widerstandwillen der Ukraine unterschätzt. Nach der Niederlage im Norden und dem Strategiewechsel im Osten und Süden ist der russische Angriff allerdings erfolgreicher verlaufen.

Seit 2023 verharren Russland und die Ukraine in einem zähen Abnützungskrieg mit minimalen Geländegewinnen für die Ukraine etwa in der Grössenordnung des Kantons Aargau. Die russischen Streitkräfte haben 2022 einen Strategiewechsel vollzogen. Die Verteidigung wird stabilisiert und die Operation ist zur Chefsache von Generalstabschef Gerassimow erklärt worden. Die Russen sind besser in der Verteidigung als im Angriff. Die Ukraine ist in der Rolle der Angreiferin gedrängt worden und zur Taktik der «Tausend Bienenstiche» übergegangen. Im Sommer 2023 gelang den ukrainischen Streitkräften in Robotyne zwar der Einbruch, nicht aber der prognostizierte Durchbruch. Putin will konsolidieren und das Erreichte absichern. Die Nato vertritt die Auffassung, dass die Ukraine nur die Vorspeise Russlands ist. Danach würden die baltischen Staaten und Moldova angegriffen. Diese Haltung ist wiederum das Argument für die Nato, die Ukraine so lange zu unterstützen und als Vorposten der liberalen Weltordnung darzustellen, wie es geht.

Die grosse Herausforderung besteht darin, dass sich in Europa die Waffenkammern leeren und die USA sich Israel und Taiwan zuwenden könnten. Das Pendel schwingt weg vom Cyberkrieg zurück zum konventionellen Krieg. Fragen der Bevorratung und der Kapazitäten, in einem Abnützungskrieg zu reüssieren, stellen sich. Russland will seine Verteidigungsausgaben um 68% steigern.

West und Ost auf dem Prüfstand
Im ersten Kalten Krieg gab es neben den Blockstaaten die Blockfreien. Sie ergriffen keine Partei. Ein ähnliches Verhalten zeigt sich heute bei den Schwellenländer. Die USA, Russland und China buhlen um diese Länder, wie das im BRICS-Gipfel in Südafrika im August 2023 klar geworden ist. Begriffe aus dem ersten Kalten Krieg wie Abschreckung und Eindämmung bekommen wieder eine Bedeutung. Strategisch hat Russland mit dem Beitritt von Finnland und Schweden zur Nato eine Niederlage erlitten. Die ganze Ostsee ist zum NATO-Binnenmeer geworden. Russland selber ist geschwächt und hat im Konflikt um Berg-Karabach gezeigt, dass es nicht fähig oder nicht willens ist, Armenien zu unterstützen.
Auch für die USA ist die Entwicklung ein Problem. Der Krieg in der Ukraine bindet Waffen und Aufmerksamkeit. Sollte Trump 2024 wieder gewählt werden, könnte das für die Ukraine ein Nachteil sein. Die Geduld in Europa nimmt langsam ab, wie Umfragen zeigen. Zur Achillesverse der Ukraine könnte die westliche Militärhilfe werden.

Die operative Seite des Krieges
Bruno Russi verwies in seinem Referat auf einen im Juli 2021 erschienen Artikel über die historische Einheit von Russland und er Ukraine. Zwar hat Russland die ukrainischen Grenzen bestätigt, sieht aber eine ganze Reihe von Gründen, wieso der Ukraine eine eigene Staatlichkeit abzusprechen ist. Mit der Einnahme der Krim ging es in den Augen des Kremls darum, eine Vereinnahmung durch die NATO zu verhindern und keinen Flottenstützpunkt der USA zuzulassen.

Phasen der Kriegsführung
Die verschiedenen Phasen der Kriegführung sind eine Angelegenheit von Aktion und Gegenaktion. Phase 1 entpuppte sich als strategische Fehlbeurteilung der Lage. Identitätsbildung und Wehrwille auf der ukrainischen Seite sind massiv unterschätzt worden, was Auswirkungen auf das Überraschungsmoment hatte. Der Kräfteansatz der Russen war mit 170‘000 bis 200’000 Man zu tief. Auch gab es keine vorbehaltenen Entschlüsse und keine gesamtheitliche Führung. Die Kriegführung oblag den einzelnen Abschnittskommandanten. Die strukturellen Gründe dafür reichen bis in die Zeit der UdSSR zurück. Die russische Armee hat kein gut ausgebildetes Unteroffizierskorps. Ihre Aufgaben übernehmen die Subalternoffiziere. Die Ausbildung der Subalternoffiziere ist technisch sehr gut. Aber es fehlt an der Ausbildung in Menschenführung und im Umgang mit Stresssituationen.

Nach der Phase 1 erfolgte der Rückzug der Russen aus Kiew und die Redimensionierung des Ambitionsniveaus. Der neue Kommandierende Generaloberst Alexander Dwornikow hatte drei Aufgaben zu lösen. Erstens sicher zu stellen, dass die Operationsführung aus einer Hand kommt und friendly fire verhindert werden kann. Zweitens ging es darum, die Operation zu redimensionieren und auf haltbare Linien auszurichten und drittens, die unkoordinierten Operationen zwischen Heer und Luftwaffe abzustimmen. Im Gegenzug gelang es Selenski, das Volk zu mobilisieren und ihm zu vermitteln, dass sich der Kampf für die Unabhängigkeit lohnt.

In der Phase 3 tragen Prigoschin mit seinen 30’000 bis 50’000 «Wagner Truppen» (Vertragssoldaten und Rekrutierte aus Gefängnissen) und Kadyrow mit seinen Einheiten aus Tschetschenien auf den Plan. Die Schwierigkeit war die Integration von grösseren Söldnerverbänden in die russischen Truppen. Da Prigoschin innenpolitisch an Einfluss gewann, wurden seine Truppen in die Blutmühle nach Bachmut geschickt.
Generaloberst Sergej Surowikin richtete in der Phase 4 die Truppen der Sonderoperation auf Verteidigung aus und konsolidierte sie gleichzeitig. Ab Oktober 2022 wurden entlang der 1500 km langen Front mit der Surowikin-Linie Befestigungsanlagen erstellt und Gräben ausgehoben.

Mit der Übernahme der Verantwortung für die Operation durch Generalstabschef Walerij Gerassimow begann die Phase 5. Zielsetzung ist eine Verbesserung und Zentralisierung der Organisation und Kommandostrukturen, der Koordination von Heer, Luftwaffe und Marine und der Verbesserung der Zusammenarbeit mit den Militärbezirken in Russland. Zudem ging es darum, die Kontrolle über die Truppen von Wagner und Kadyrow zu erlangen und das Vertrauen in die Führung wiederherzustellen. Gerassimow ist auch für die Produktion von Rüstungsgütern und ihren Transport in die Ukraine verantwortlich. Der Gesamtbestand der russischen Streitkräfte soll auf 1,5 Millionen Mann anwachsen, was einer Rückgängigmachung der Verkleinerung der Streitkräfte seit 2008 auf ca. eine Million gleichkommt.

Die ukrainische Gegenoffensive vom Juni 2023 hat zum Ziel, die Front zu spalten und die logistischen Linien der Russen mit Artillerie (Himars) zu bekämpfen. Bis zum Ende Oktober 2023 sind allerdings keine substantiellen Fortschritte feststellbar, was den Übergang der Ukrainer zur Taktik der «1000 Bienenstiche» und die Ausweitung der Kämpfe auf die Grenzregion und die russische Seite in Belgorod erklärt. Damit soll der Bevölkerung vor Augen geführt werden, dass der russische Staat nicht mehr für ihre Sicherheit sorgen kann. Für die ukrainische Seite wird die Blindgänger-Problematik entlang der 1500 km langen Frontlinie zu einer grossen Herausforderung.