Tagungsleiter und Referenten
Dr. Dieter Kläy, Tagungsleiter und Vorstandsmitglied der GMS
PD Dr. Hans Rudolf Fuhrer, Militärhistoriker, Herausgeber der GMS-Jahresschriften
Dr. Matthias Uhl, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut, Moskau
Tagungsthema
Operation Barbarossa
Die Operation Barbarossa („Fall Barbarossa“) war der Deckname des Hitlerregimes für den Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Hitler hatte den Angriff auf die Sowjetunion nach dem Sieg über Frankreich angestrebt und seinen Entschluss dem Oberkommando der Wehrmacht am 31. Juli 1940 mitgeteilt. Am 18. Dezember 1940 erteilte er den Auftrag zur Vorbereitung des Angriffs.
In den vergangenen Jahrzehnten wurde immer wieder die These diskutiert, der deutsche Angriff auf die Sowjetunion habe einen bevorstehenden Angriff Stalins auf das Deutsche Reich verhindert (Präventivkriegsthese). Die Rote Armee sei bereits im Frühjahr und Sommer 1941 für einen Angriff aufgestellt gewesen. Historiker entkräfteten diese These bereits in den 60-er Jahren. Mitte der achtziger Jahre wurde sie erneut vertreten, unter anderem vom österreichischen Philosophen Ernst Topitsch und vom sowjetischen Überläufer Viktor Suworow. Neue Dokumentenfunde befeuerten die These bis in die 90-er Jahre hinein.
Die Gesellschaft für militärhistorische Studienreisen GMS thematisiert die Operation Barbarossa seit den 90-er Jahren regelmässig in Tagungen und Reisen. An der Veranstaltung vom 6. November 2021 gehen Matthias Uhl und Hans Rudolf Fuhrer den Fragen der Kriegsvorbereitungen auf beiden Seiten auf den Grund.
Matthias Uhl studierte Geschichte und osteuropäische Geschichte in Halle und Moskau. 2000-2005 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte in Berlin. Seit 2005 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Moskau. Er forscht zur Geschichte der Sowjetunion und des Zweiten Weltkrieges und veröffentlichte zahlreiche Werke zur deutschen und sowjetischen Militärgeschichte.
Hans Rudolf Fuhrer studierte Pädagogik, Militärgeschichte und Schweizergeschichte und promovierte 1982 bei Walter Schaufelberger an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich mit der Dissertation „Spionage gegen die Schweiz. Die geheimen deutschen Nachrichtendienste gegen die Schweiz im Zweiten Weltkrieg“. Bis 1990 amtierte er als Seminarlehrer bei der Ausbildung von Lehrern für die Sekundarstufe der Universität Zürich. Er habilitierte sich mit der Arbeit „Die Schweizer Armee im Ersten Weltkrieg. Bedrohung, Landesverteidigung und Landesbefestigung“. Danach war er bis 2006 Dozent für Militärgeschichte an der Militärakademie der ETH Zürich und Privatdozent an der Universität Zürich. Hans Rudolf Fuhrer veröffentlichte mehrere militärhistorische Bücher und ist als Reiseleiter der GMS aktiv
Der Bericht des Tagungsleiters
Operation Barbarossa – Präventivkrieg oder nicht?
Ob die Operation BARBAROSSA, der Angriff Hitlers auf die Sowjetunion vom 22. Juni 1941, ein Präventivkrieg war, ist eine Definitionsfrage und muss aufgrund dieser überprüft werden. Diese Auffassung vertrat Hans Rudolf Fuhrer an der mit über 100 Teilnehmenden gut besuchten Herbsttagung der GMS. Matthias Uhl, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Moskau indes ist davon überzeugt, dass Stalin keinen Präventivschlag gegen Deutschland plante, weil die Rote Armee dazu gar nicht in der Lage war.
Wehrmacht trifft auf überraschten und schlecht ausgerüsteten Gegner
Matthias Uhl führte anhand von Dokumenten der Wehrmacht aus, dass Deutschland bereits im August 1940 Angriffspläne auf die Sowjetunion erarbeitete, selbst aber keine Intervention der UdSSR erwartete. Auch die Führung der Wehrmacht glaubte nicht an einen Angriff der Roten Armee und sah schon gar keine Hinweise auf einen Überraschungsangriff. Uhl stützte seine Überlegungen unter anderem auf die Operationspläne von Generalmajor Erich Marcks und Oberstleutnant Bernhard von Lossberg. Ziel des Feldzuges von Adolf Hitler sollte sein, das in Westrussland stehende Heer zu vernichten, den Abzug kampfkräftiger Teil in die Weite des russischen Raumes zu verhindern und Westrussland abzuschneiden. Beide lokalisierten Schwierigkeiten der Militärführung der Roten Armee in kurzfristigen Kräfteverschiebungen im grossen Stil. „Während Stalin bei seinen strategischen Überlegungen auf Zeit setzen zu können meinte, sah sich Hitler zusehends von den politischen und militärischen Ereignissen getrieben. Spätestens ab Ende Dezember 1940 liess er sich von der Prämisse leiten, dass der Feldzug gegen Russland bis zu dem 1942 zu erwartenden militärischen Eingreifen der USA entschieden sein muss», so Uhl. Ab Ende 1940 informierte Generalstabschef Franz Halder die Truppen über Hitlers Vorstellungen und wies diese an, sich für Frühjahr 1941 vorzubereiten. Als am 22. Juni 1941 die Wehrmacht in die Sowjetunion einfiel, trafen die Invasoren vor allem auf überraschte und schlecht ausgerüstete Truppen der Roten Armee. Brücken fielen unzerstört an die Deutschen. Wenig Artillerie stand den Sowjets zur Verfügung. Es herrschte Munitionsmangel. Die Luftstreitkräfte der UdSSR waren der deutschen Luftwaffe hoffnungslos unterlegen. Auch am nächsten Tag, am 23. Juni 1941 konnte Berlin keine Anzeichen für eine Offensive der UdSSR feststellen. Der deutsche Militärgeheimdienst hat bereits im russische-finnischen Winterkrieg von Ende 1939 eine mangelnde Offensivfähigkeit der Roten Armee festgestellt. Damals begonnene verstärkte Befestigungsmassnahmen an der ganzen Westgrenze der UdSSR hätten den defensiven Charakter der Massnahmen gezeigt. Gemäss Uhl wusste Stalin, dass ein Präventivschlag seitens Moskau in einem Desaster enden würde. Deshalb habe er keine Anstalten getroffen, das Deutsche Reich anzugreifen.
Truppenkonzentration als Zeichen für Präventivschlag?
Differenzierte Überlegungen präsentierte Hans Rudolf Fuhrer. Er lokalisierte die Wurzeln einer Offensivplanung der Sowjetunion gegen Europa bereits in den zwanziger und dreissiger Jahren. Aufgrund der heutigen Forschungserkenntnisse ist ein differenziertes Urteil angesagt. Es gab Anzeichen, dass Stalin zu einem späteren Zeitpunkt einen präventiven Schlag auslösen wollte, da beim Überfall auf die UdSSR die deutschen Spitzen auf Truppen der Roten Armee in Angriffsgrundstellung stiessen. Begründet wird Präventivkriegsthese auch mit der damaligen sowjetischen Militärdoktrin von 1936, die einen offensiven Zug hatte. Das Ziel lag darin, nach einem kurzen Gefecht an den Grenzen die bewaffneten Auseinandersetzungen auf das Gebiet des Gegners zu verlagern. Anhand vier Operationspläne zeigte Fuhrer, dass die damalige Führung um Marschall Timoschenko durchaus einen Präventivschlag plante. Es ging um die Schaffung eines operativen Vorfeldes. Die Planung von September 1940 wurde in zwei Kriegsspielen im Januar 1941 getestet. Der Mobilmachungsplan Nr. 23 beinhaltete eine Aufstockung der Roten Armee auf über 300 Divisionen. Im März 1941 hat die Planung nicht stark geändert. Anlässlich seiner berühmten Rede vor der Armeeführung und Absolventen der 16 Militärakademien am 5. Mai 1941 im Kreml verwies Stalin auf drei besonders wichtige Punkte: Erstens ist die russische Armee eine moderne, offensive Armee geworden. Zweitens muss man keine Angst von den Deutschen haben. Sie sind wie Napoleon besiegbar. Drittens kann jeder Politiker, der ein Gefühl der Selbstzufriedenheit zulässt, mit einer Überraschung konfrontiert werden. Im Operationsplan vom Mai plädierte Schukow für einen Angriff durch die Südwestfront, um nach 30 Tagen auf die Linie Breslau – Berlin zu gelangen.
Am 22. Juni 1941waren die sowjetischen Landstreitkräfte längs der Grenze von der Leningrader bis zur Südfront wie eine Perlenschnur aufgestellt. Zur Verfügung standen 258 Divisionen, davon 152 mit offensivem Charakter. Fuhrer folgerte daraus, dass sowohl das Deutsche Reich wie auch die UdSSR aus ideologischen Gründen einen Krieg als unvermeidbar betrachteten und der sowjetische Generalstab sich intensiv darauf vorbereitet hatte. Ob der präventive Angriff tatsächlich ausgelöst worden wäre, ist aufgrund der Quellen und des deutschen Angriffs unentscheidbar. Die strategischen und operativen Fehler der UdSSR in der ersten Kriegsphase waren schwerwiegend, das Verhalten im Krieg beiderseits unentschuldbar.
Dieter Kläy
Die Referate der Tagung und zusätzliche Materialien sind in der GMS-Jahresschrift Nr. 45 enthalten, die 2022 herauskommen wird.